Für das Jahr 2003 erwarten wir eine außergewöhnliche Marsopposition. Mars wird uns am 28. August bis auf 55,5 Mill. km nahe kommen, denn zwei Dinge fallen zeitlich nahezu zusammen: Das Perihel, d.h. der sonnennächste Punkt der Bahn und die Opposition - der Planet kulminiert also um Mitternacht; leider relativ südlich im Wassermann. Da Sonne, Erde und Mars dann in einer Linie stehen, wird der Mars also auch der Erde sehr nahe sein. Das bedeutet große Helligkeit (-2,8 mag) und eine große Planetenscheibe (25"). Ein solches Ereignis ist relativ selten (der Abstand war in den letzten 2000 Jahren nie kleiner und wird erst 2287 unterschritten) - und einer besonderen Feier würdig: Die VdS nimmt es als Anlass für den ersten deutschen „Astronomietag".
Was hat dieses Ereignis mit dem amerikanischen Astronomen Asaph Hall (Abb. 1) zu tun? Nun, er konnte etwas ähnlich spektakuläres erleben, denn im Sommer 1877 kam es ebenfalls zu einer extremen Perihelopposition bei einer Entfernung von 56,4 Mill. km. Interessanterweise stand Mars nur etwa 10° NW der 2003-Position in den Fischen. Was interessierte Hall an Mars, außer dass er hell (-2,8 mag) und groß (24,8") erschien? Die „Marskanäle" waren noch nicht „entdeckt". Dies ist mit einem Satz erklärt, den Hall selbst zitiert und der die damalige Lehrmeinung wiedergibt: „Mars has no moons" - also: Zweifel gepaart mit Forscherdrang! Man musste vielleicht nur vernünftig suchen? Was lag also näher als die Marsopposition von 1877 zu nutzen. Bevor ich berichte wie, wo und womit er suchte, hier zunächst ein kurzer Abriss von Hall's Werdegang [1].
Abb. 1: Asaph Hall (1829-1907) im Alter von 41 Jahren.
Asaph Hall wurde am 15. Oktober 1829 in Goshun, Connecticut, geboren. Sein Vater war Uhrenfabrikant, die Geschäfte liefen aber leider schlecht. Er starb als Asaph 13 war. Der Sohn wurde Zimmermann, interessierte sich aber mehr für Architektur und befasste sich früh mit Mathematik, was ihn auch mit Astronomie in Berührung brachte. 1856, nunmehr 26, beschloss er Astronom zu werden. Er heiratete die Lehrerin Chloe Angeline Stickney und das Paar zog im gleichen Jahr nach Ann Arbor, Michigan. An der University of Michigan konnte Hall Astronomie bei Prof. Franz Brünnow studieren - leider nur für ein Jahr, dann ging ihnen das Geld aus. Sie siedelten nach Shalersville über und konnten dort über den Winter als Lehrer arbeiten. Hall bewarb sich um eine Stelle am Harvard College Observatory in Cambridge und William Cranch Bond, der erste Direktor (auch aus einer Uhrmacherfamilie stammend), stellte ihn ein. Bond's Sohn George Phillips war ebenfalls am Observatorium tätig und zu diesem Zeitpunkt verreist. Als er zurückkehrte wunderte er sich über den neuen, aber erstaunlich begabten Mitarbeiter. Hall verdiente zunächst magere 3$ pro Woche, nach einem Jahr wurden daraus 8$ und Hall blieb bis 1862. Er berechnete Planetoiden- und Kometenbahnen unter dem neuen Direktor George Phillips Bond (der Vater war 1859 gestorben). Ein Nutznießer war der bekannte Kometenbeobachter Horace Parnell Tuttle [2], seit 1857 in Harvard. Hall zeigte, dass der von Tuttle entdeckte Komet 1858 I („Tuttle") mit Mechain's Komet 1790 II identisch war. Leider brachte der amerikanische Bürgerkrieg (ab 1861) eine Inflation. Hall kam wieder in Not und brauchte einen besseren Job. Den bekam er 1862 am U.S. Naval Observatory (USNO) in Washington, damals noch nahe dem Potomac River angesiedelt [3]. Direktor war Simon Newcomb, eine Kapazität der Himmelsmechanik und Herausgeber des „Nautical Almanac". Übrigens kam Tuttle (er war Soldat im Bürgerkrieg) 1884 ebenfalls zum USNO. 1863 erhielt Hall eine Professur für Mathematik und er befaßte sich Himmelsmechanik. Ein Thema war auch Mars und dessen Masse. Diese konnte, wegen fehlendem Trabanten, nur aus den Störungen von Erde und Jupiter berechnet werden. Anfangs beobachtete Hall mit dem 9,6" (f/19) Merz-Refraktor [3] und einmal war Präsident Lincoln zu Gast, dem er Mond und Planeten vorführte. Nach dem Umzug des Observatoriums an die Massachusetts Ave., wurde 1873 der 26" Clark-Refraktor (f/14.5) installiert [4] (Abb. 2 u. 3).
Abb. 2: Der 26" Refraktor des U.S. Naval Observatory (am Okular sitzt Simon Newcomb).
Abb. 3: Das USNO im Jahre 1878 mit der Kuppel des 26-Zöllers im Hintergrund.
In den ersten beiden Jahren blieb der 26-Zöller Newcomb und seinem ehrgeizigen (und nicht besonders beliebten) Assistenten Edward Singleton Holden vorbehalten. Hall nutzte aber die seltenen Gelegenheiten und fand am 7. Dezember 1876 einen „weißen Fleck" auf Saturn, der für die weitere Entwicklung bedeutsam war [5]. Seit William Herschel (1794) stand in den Lehrbüchern ein Wert von 10h 16m für Saturn's Rotation. Mit Hilfe des Flecks berechnete nun Hall 10h 14m 24s. Die Differenz war groß genug um alsbald zu beträchtlichen Abweichungen zu führen. Hall kamen daraufhin generell Zweifel an „gesicherten" Lehrbuchmeinungen - so auch die über Marsmonde! Er studierte die vorhandenen Quellen. Seit William Herschel's negativem Resultat (1783) und dem erneuten Versuch seines Sohns John (1830) gab es nur wenig Neues. So hielt z.B. Heinrich Ludwig d'Arrest an der Kopenhagener Sternwarte während der Oppositionen 1862 und 1864 nach Monden Ausschau [6] aber sein Teleskop war zu klein, die Vergrößerung zu gering und er suchte in zu großem Abstand (ca. 70'). Für Hall war klar: Im August 1877 würden sich mit dem großen Refraktor wesentlich bessere Chancen bieten. Einziger Nachteil, die geringe Horizonthöhe von ca. 40°. Er hielt daher den 48" Reflektor in Melbourne für geeigneter, schwieg aber. Er wollte den eventuellen Ruhm mit niemanden teilen! So war er auch über der Nachricht von Heinrich Peters vom Litchfield Observatory (Hamilton College) beunruhigt, dass die Universitätssternwarte Wien dabei war, einen 27" Refraktor zu errichten. Doch das eigentliche Unheil lag wesentlich näher: sein Kollege Holden! Er entdeckte in einer Schublade Marsaufnahmen von Holden mit dem 27-Zöller aus dem Jahre 1875, die auf eine Suche nach Monden hindeuteten. Hall fiel ein Stein vom Herzen, als er erfuhr, dass Henry Draper Holden im August auf seine Sternwarte in Dobb's Ferry, N.Y. eingeladen hatte. Das war Rettung in letzter Sekunde! Einer visuellen Suche mit dem großen Refraktor stand nun nichts mehr im Weg.
Hall begann am 9. August [7] und suchte die weitere Umgebung des Mars ab (er benutzte meist eine 400fache Vergrößerung), fand aber nur schwache Sterne. In der Folgenacht zog er den Kreis enger und versuchte den Planeten knapp aus dem Feld zu halten - der Strahlenkranz war trotzdem gewaltig. Zudem wurde das Seeing schlecht und er wollte aufgeben. Seine Frau Angeline ermutigte ihn weiterzumachen und er probierte es am 11. erneut. Es war gegen 230 morgens (nach Kalender bereits der 12.; der Astronomen-Tag ging damals von Mittag-Mittag): Hall entdeckte „a faint star near Mars", östlich („following") und ein wenig nördlich des Planeten (Abb. 4) - dann rollten Nebelschwaden vom Potomac aus dem Süden heran. Das Wetter blieb schlecht und der Himmel klarte erst am 15. gegen 23 Uhr nach einem Gewitter wieder auf. Hall hatte sich in der Sternwarte einquartiert und versuchte jede Gelegenheit zu nutzen, aber die Luft war in dieser Nacht noch zu unruhig. Der 16. August sollte die Entscheidung bringen. Er fand das 11,6 mag helle Objekt wieder (Abb. 5) und es bewegte sich auf der östlichen Seite eindeutig mit dem Planeten - ohne Zweifel ein Marsmond: Deimos war entdeckt! Er weihte seinen Nachtassistenten George Anderson ein und beide verfolgten den Trabanten bis gegen 3 Uhr. In der (berechtigten!) Angst, jemand könnte ihm die Butter vom Brot nehmen, beschwor Hall Anderson den Mund zu halten. Am 17. entdeckte er bei der Beobachtung von Deimos ein weiteres verdächtiges Objekt (Abb. 6) - es war Phobos! Anderson sah das 10,5 mag helle Objekt auch und diesmal konnte Hall nicht weiter an sich halten: Am nächsten Mittag trug er die Beobachtung seiner „Mars stars" ins offizielle Beobachtungsbuch ein. Newcomb, gerade in der Mittagspause, kam zufällig herein und Hall „beichtete". Der Chef war sehr aufgeregt und man beschloss eine gemeinsame Beobachtung in der kommenden Nacht. Neben Hall, Anderson und Newcomb waren David Todd [8] und William Harkness dabei. Todd notierte: „Seeing extremely bad: still I saw the companion [Deimos] without difficulty. ‚Halo' around the planet very bright, and the satellite was visible in this halo." Tags darauf verkündete der Superintendent des Observatoriums, Admiral John Rogers, offiziell die Entdeckung (Newcomb wurde kurz darauf sein Nachfolger). Hall konnte die extrem kurze Umlaufszeit von Phobos (nur 1/3 der Marsrotation) kaum glauben und er vermutete zunächst noch 2 bis 3 weitere innere Monde, die ihn zu narren schienen. Am 21. August stand aber fest: Mars hat zwei Monde (zur Geschichte s. auch [9] - [13]).
Abb. 4: Mars und Deimos am 12.08.1877 (modernes Datum) um 2:30 EST (Guide 8). Höhe 41°, Azimut 180°, Helligkeit -2,4 mag, Größe 23".
Abb. 5: Mars und Deimos am 16.08.1877 (modernes Datum) um 23:30 EST (Guide 8). Höhe 31°, Azimut 138°, Helligkeit -2,5 mag, Größe 24" (der helle Stern ist BD -10° 6127; 5,1 mag).
Abb. 6: Mars und Phobos am 18.08.1877 (modernes Datum) um 0:30 EST (Guide 8). Höhe 37°, Azimut 156°, Helligkeit -2,5 mag, Größe 24".
Hall bemühte sich zu diesem Zeitpunkt einen gewaltigen Schock zu verdauen: Newcomb hatte sich erdreistet in der New York Times vom 20. die Entdeckung als seine eigene hinzustellen und schrieb über Hall, dass dieser die Monde erst akzeptiert hätte, nachdem er [Newcomb] die Perioden bestimmt habe. Es kam noch dicker: Holden, mittlerweile über die Lage im Bilde, berichtete Ende August ungestüm, dass er mit Draper's 28" Reflektor drei weitere Monde gefunden habe. Hall berechnete die Bahnen seiner und Holden's Monde und kam zu einem eindeutigen Ergebnis: Seine Trabanten waren real, einer von Holden's war Deimos, zwei weitere nur schwache Feldsterne. Holden legte nach und „fand" am 24. September (zurück am USNO) mit der 26-Zöller wieder einen Marsmond. Hall rechnete nach und erklärte empört, dass dessen „Bahn" eindeutig die Kepler'schen Gesetze verletze! Er schrieb zornig an Edward Pickering (Direktor des Harvard Observatory), dass doch demnächst jeder seine eigenen Monde verifizieren solle. Die Fachwelt stand auf Hall's Seite und Holden wurde zur Lachnummer!
Die Konfrontation zwischen Hall und Newcomb blieb und Hall - mittlerweile eine Berühmtheit - sprach noch 1904 verbittert über ihn als jemand, der „gierig nach Geld und Ruhm" sei. Die Marsmonde wurden später selbst mit 9-Zöllern beobachtet und man fragte sich, warum sie nicht schon eher gefunden worden seien.
Am Rande bemerkt: Hall wagte am 7. Februar 1886 mit dem 27-Zöller einen Abschiedsblick auf die epochale Supernova S And (1885) in M 31. Sie war nur noch 16 mag hell und er war der letzte der sie sah, bevor sie für immer verschwand. Hall genoss große Anerkennung und beeinflußte eine ganze Generation junger Astronomen, wie etwa Edward Emerson Barnard [14]. 1891 hatte er mit 62 das Pensionsalter der Navy erreicht, verließ das Observatorium und zog zurück nach Connecticut. Fünf Jahre später wurde Hall noch ehrenhalber Professor für Astronomie in Harvard. Er starb am 22. November 1907 im Alter von 78 in Annapolis, Maryland.
Die Marsmonde sind heute detailliert untersucht [15]. Ihre Namen Deimos und Phobos stammen übrigens von Henry Madan (1838-1901), Hausmeister am Eaton College in England. Hall, dem die Namensgebung zustand, akzeptierte dessen Vorschlag - sind doch „Angst" und „Schrecken" (nach Homer's Illias) die gefürchteten Gesellen des Kriegsgottes Mars. Übrigens war es Madan's Großnichte Ventia Burney, die 1930 im Alter von 11 Jahren (!) ebenfalls einen bedeutenden Vorschlag machte [16]: Der von Clyde Tombaugh entdeckte 9. Planet solle „Pluto" heißen!
[1] Nachruf: Asaph Hall, Mon. Not. Roy. Astron. Soc. 68, 243 (1908)
[2]Yeomans, D. K., Comets, John Wiley & Sons, New York 1991
[3] Dick, J. S., How the U.S. Naval Observatory Began 1830-65, Sky & Telescope 12/1980, 466
[4] Rhynsburger, R. W., Historic Refractor's 100th Anniversary, Sky & Telescope 10/1973, 208
[5] Sanchez-Lavega, A., Saturn's Great White Spot, Sky & Telescope 8/1989, 141
[6] d'Arrest, H. L., Astron. Nachr. 64, 74 (1865)
[7] Hall, A., The Discovery of the Satellites of Mars, Mon. Not. Roy. Astron. Soc. 38, 205 (1878)
[8] Steinicke, W., David Peck Todd, Interstellarum 24 (2002)
[9] Gingerich, O., Journal for the History of Astronomy 1, 109-115 (1970)
[10] Ashbrook, J., Asaph Hall finds the Moons of Mars, Sky & Telescope 7/1977, 20 (s. auch: Ashbrook, J., The Astronomical Scrapbook, Sky Publ. Corp. 1984)
[11] Gingerich, O., Pascu, D., The Satellites of Mars, Vistas in Astronomy 22 (1978)
[12] Dick, J. S., Discovery of the Moons of Mars, Sky & Telescope 9/1988, 242
[13] Sheehan, W., The Planet Mars: A History of Observation and Discovery, Univ. of Arizona Press 1996
[14] Sheehan, W., The Immortial Fire Within, Cambridge University Press 1995
[15] SuW-Special 7: Monde, 2002, 48
[16] Moore, P., The Naming of Pluto, Sky & Telescope 11/1984, 400